Opfer und Täter – es gehören immer zwei dazu

Bei der aktuellen Diskussion darum, was man sagen darf oder nicht – Cancle culture nennt man das wohl neudeutsch – passt die Frage um Opfer und Täter gut dazu.

Vor vielen Jahren habe ich bei einer Übung im Verlauf eines Seminares mitgemacht. Die Gruppen bestanden immer aus drei Leuten: einer der Täter spielen sollte, einer der Opfer sein sollte und einer der aufpasste, dass die anderen beiden sich nicht gegenseitig umbrachten. Natürlich reihum, damit jeder mal Opfer und Täter sein konnte. Für mich war das eine sehr interessante Erfahrung und ich kann nur jedem empfehlen es mal auszuprobieren.

Meine Erfahrung war, dass ich mich als Opfer total entspannt zurücklehnen konnte und zuschauen, wie der Täter sich abmühte mich zum Opfer werden zu lassen. Mein Fazit daraus: das Opfer entscheidet, ob es Opfer sein will oder nicht.

Nun ist es im „wahren Leben“ zweifellos nicht so einfach, in einer Situation zu entscheiden, die uns unvorbereitet trifft. Eine weitere Situation in meinem Leben machte mir in diesem Zusammenhang einiges klar:
Ich bastelte mit einer Freundin zusammen an einem neuen Seminarkonzept. Wir waren gut voran gekommen und zufrieden mit unserer Arbeit. Ich erinnere mich nicht mehr im Detail daran, was passierte, aber auf einmal warf sie mir vor, ich wäre übergriffig geworden und das hätte ich nicht tun dürfen. Ich wusste überhaupt nicht wie mir geschah.

Ihr Kernvorwurf lautete, ich hätte wissen müssen, dass ich sie kränke und hätte das deshalb nicht sagen dürfen.

Ich habe lange darüber nachgedacht. Konnte ich wirklich wissen, dass ich sie kränken würde? Nein, konnte ich nicht. Wenn sich jemand so derart „vor den Karren gefahren fühlt“, dann ist das eine Möglichkeit für Wachstum, dann wird da in dem Moment etwas angetriggert, das demjenigen die Möglichkeit gibt herauszufinden, welche „alte Erfahrung“ hier wiederholt wurde. Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten diese zu transformieren und innerlich zu wachsen.
Einige Tage, Gespräche und Übungen später bedankte sie sich bei mir, dass ich darauf beharrt hatte, dass ich nichts dafür konnte. Auf diese Weise hatte ich ihr die Möglichkeit gegeben zu wachsen. Gleichzeitig bin ich auch gewachsen indem ich dazu gestanden habe, dass das nicht meine Baustelle war.

Was wir derzeit im Zusammenhang mit der cancel culture und Genderwahn erleben, ist aus meiner Sicht genau das. Da wird die Moralkeule geschwungen und argumentiert, man dürfe andere nicht kränken bzw. müsse deren Gesundheit schützen. Ich halte das für sehr fragwürdig, denn erstens ist überhaupt nicht sicher gestellt, dass Personen über die da geurteilt wird tatsächlich gekränkt sind und zweitens nimmt man ihnen damit die Möglichkeit innerlich zu wachsen.

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